01 März 2018

Besserstellung der Teilzeiterwerbstätigen bei Invalidität

Der Bundesrat hat in seiner Sitzung vom 1. Dezember 2017 ein neues Berechnungsmodell für die Festlegung des Invaliditätsgrades von Teilzeiterwerbstätigen verabschiedet. Dieses trägt der Vereinbarkeit von Erziehung und Beruf besser Rechnung und entspricht den Erwägungen des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in der Angelegenheit Di Trizio. Die neuen Bestimmungen sind per 1. Januar 2018 in Kraft getreten.

Entstehungsgeschichte

Nachdem das Postulat Jans „Schlechterstellung von Teilerwerbstätigen bei der Invalidenversicherung“ im Juni 2015 beim Bundesrat noch nicht zu einer Korrektur der Situation geführt hatte, brachte das Urteil des EGMR vom 2. Februar 2016 den Stein endgültig ins Rollen. In diesem Urteil hat der EGMR entschieden, dass die Anwendung der gemischten Methode, d.h. das Aufteilen des Invaliditätsgrades der Eidgenössischen Invalidenversicherung (IV) in einen Erwerbsteil und in einen Aufgabenbereichsteil (Haushalt, Pflege und Betreuung von Angehörigen), bei Teilzeiterwerbstätigen nicht zum Zuge kommt, wenn die Teilzeitarbeit ausschliesslich in der Geburt eines Kindes gründet. Der EGMR betrachtet dieses Vorgehen als eine Verletzung der Achtung auf das Familienleben.

Das Urteil hatte zur Folge, dass bei familiär begründeten Pensumsreduktionen die gemischte Methode bei Rentenrevisionen oder erstmaliger Rentenzusprache mit gleichzeitiger Abstufung oder Befristung nicht mehr zur Anwendung kam.

Der Bundesrat hat in der Folge die neuen Verordnungsbestimmungen zum Bundesgesetz über die Invalidenversicherung ausgearbeitet. Diese sind am 1. Januar 2018 in Kraft getreten.

 

Die neue Berechnungsmethode

Die neue Berechnungsweise von Art. 27bis der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV) geht von einer gleichwertigen Gewichtung der beiden Invaliditätsgrade im Erwerbs- wie im Aufgabenbereich aus. Die beiden folgenden Beispiele illustrieren die alte und neue Berechnung (Quelle: Erläuterungen des Bundesamtes für Sozialversicherungen zu den Änderungen der IVV, Anhang).

 

 

Aktuelles Modell gemischte Methode

Neues Modell gemischte Methode

Fallbeispiel 1:

Erwerbspensum bei voller Gesund-heit: 50%

Lohn bei 50%-Pensum: CHF 30‘000.-

Pensum Aufgabenbereich (Haushalt): 50%

Gesundheitliche Einschränkungen:
- 50% arbeitsfähig bezogen auf den bisherigen Beruf, versicherte Person bleibt beim bisherigen Arbeitgeber angestellt
- 30% Einschränkung im Haushalt (gemäss Abklärung vor Ort)

Invalidität im Erwerbsteil:
Valideneinkommen = 30‘000.-
Invalideneinkommen = 30‘000.-
Erwerbseinbusse = 0.-
IV-Grad Erwerb: 0%

IV-Grad im Aufgabenbereich: 30%

Berechnung der Gesamtinvalidität:
(0% x 0.5) + (30% x 0.5) = 15%

Die versicherte Person hat keinen Ren-tenanspruch.

Invalidität im Erwerbsteil:
Valideneinkommen (bei 100%) = 60‘000.-
Invalideneinkommen = 30‘000.-
Erwerbseinbusse = 30‘000.-
IV-Grad Erwerb: 50%

IV-Grad im Aufgabenbereich: 30%

Berechnung der Gesamtinvalidität:
(50% x 0.5) + (30% x 0.5) = 40%

Die versicherte Person hat Anspruch auf eine Viertelsrente.

Fallbeispiel 2:

Erwerbspensum bei voller Gesund-heit: 80%
Lohn bei 80%-Pensum: CHF 60‘000.-

Pensum Aufgabenbereich (Haushalt): 20%

Gesundheitliche Einschränkungen:
- 40% arbeitsfähig in einer einfachen angepassten Tätigkeit, möglicher Lohn CHF 20‘000.-
- 30% Einschränkung im Haushalt (gemäss Abklärung vor Ort)

Invalidität im Erwerbsteil:
Valideneinkommen = 60‘000.-
Invalideneinkommen = 20‘000.-
Erwerbseinbusse = 40‘000.-
IV-Grad Erwerb: 66.66%

IV-Grad im Aufgabenbereich: 30%

Berechnung der Gesamtinvalidität:
(66.66% x 0.8) + (30% x 0.2) = 59.33%

Die versicherte Person hat Anspruch auf eine halbe Rente.

Invalidität im Erwerbsteil:
Valideneinkommen (bei 100%) = 75‘000.-
Invalideneinkommen = 20‘000.-
Erwerbseinbusse = 55‘000.-
IV-Grad Erwerb: 73.33%

IV-Grad im Aufgabenbereich: 30%

Berechnung der Gesamtinvalidität:
(73.33% x 0.8) + (30% x 0.2) = 64.66%

Die versicherte Person hat Anspruch auf eine Dreiviertelsrente.

(Quelle: Erläuterungen des Bundesamtes für Sozialversicherungen zu den Änderungen der IVV, Anhang).

 

Im ersten Fallbeispiel führt die alte Berechnungsmethode im Gegensatz zur Anwendung der neuen Gesetzesbestimmungen zu keinem Rentenanspruch. Beim Fallbeispiel 2 erhöht sich die Rente. Die Differenzen gründen in der Tatsache, dass nach neuem Recht das Valideneinkommen auf eine Vollzeitstelle hochgerechnet wird, wie dies auch in der obligatorischen Unfallversicherung der Fall ist.

Die stärkere Berücksichtigung der Einschränkungen im Erwerbsbereich führt tendenziell zu höheren Invaliditätsgraden. Der Bundesrat schätzt die mit der Gesetzesänderung verbundenen Mehrausgaben auf etwa 35 Millionen Franken pro Jahr.

Für alle laufenden Invalidenrenten muss bis Ende 2018 von den IV-Stellen eine Revision eingeleitet werden. Führt diese zu einer Änderung des Invaliditätsgrades, so ist die Korrektur rückwirkend auf den 1. Januar 2018 vorzunehmen. Invalide Personen, deren IV-Grad aufgrund der Anwendung der gemischten Methode unter 40% lag, können ihren Anspruch erneut bei der IV-Stelle anmelden. Hier erfolgt keine Revision von Amtes wegen, so dass die betroffenen Personen die Neuanmeldung selber vorzunehmen haben.

 

Auswirkungen auf die berufliche Vorsorge

Der Invaliditätsgrad in der 2.Säule wird grundsätzlich gleich berechnet wie derjenige der IV. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist in der beruflichen Vorsorge bei Teilzeitwerbstätigen jedoch der Invaliditätsgrad bezogen auf das bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit versicherte Teilzeitpensum zu berechnen. Ob die Gesetzesänderung zu einer Änderung dieses Grundsatzes führt, wird sich noch zeigen. Unabhängig davon können höhere Renten der Invalidenversicherung zu einer Senkung der Leistungen der beruflichen Vorsorge infolge Überentschädigung führen. Es bestehen zurzeit keine Angaben, welche es zuverlässig erlauben würden, die finanziellen Auswirkungen der Gesetzesänderung zu schätzen.

Daniel Stürzinger
Legal Consulting Counselor